Tierwohl: der entfremdete Blick des Konsumenten
“Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral”. Dieses berühmte Zitat von Berthold Brecht bringt es auf den Punkt: Erst seit im reichen Westen die Frage der Ernährungssicherheit als weitestgehend geklärt angesehen werden kann, richtet sich der gesellschaftliche Fokus auf die darüber hinausgehende Frage nach dem Tierwohl. Hier nun, so der Tier-Ethiker Christian Dürnberger vom Messerli Foschungsinstitut in Wien, sehen sich Schweinehalter und Schlachthofbetreiber, sieht sich die ganze Branche, mit neuen Herausforderungen konfrontiert.
> Tierwohl: der fragende Blick der Ethik
> Tierwohl: der rechnende Blick der Ökonomie
> VIDEO: SCHWEIN (8/8) - Tierethik, Tiermoral vs. Ökonomie
Bis vor gar nicht allzu langer Zeit schien man von ihnen nichts weiter zu verlangen als genügend Schweinefleisch zu produzieren zu einem günstigen Preis und unter Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften in puncto Lebensmittelsicherheit und Hygiene. Diese Anforderungen werden heute von der Branche nach Punkt und Beistrich erfüllt. Über die ganze Erzeugungskette strengstens kontrolliertes, einwandfreies und preisgünstiges Schweinefleisch ist heute in Österreich - wie in der ganzen hochentwickelten Welt - eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit. Der Skandal ist die seltene Ausnahme von der Regel, auch wenn er medial entsprechend ausgeschlachtet wird. Mit anderen Worten: “Wir sind satt”, so Dürnberger weiter und deshalb hinterfragen wir die Produktionsprozesse. Für ihn ist die gesamte Debatte jedoch keine Luxusdiskussion im Sinne von verschwenderisch oder sinnlos, vielmehr sollte die Gesellschaft froh darüber sein, einen Wohlstand erreicht zu haben, der derartige ethische Fragen in den Blick kommen lässt. Dazu kommt, dass man heute einfach mehr weiß über das Tier und dessen Bedürfnisse. Man kann nicht länger so tun, als sei man hier ahnungslos. Eine immer kritischer werdende Öffentlichkeit richtet ihren fragenden Blick auf die Vorgänge in der Produktion. Und die Akteure der Branche spüren einen zunehmenden Rechtfertigungsdruck.
Laut Manuela Schürr, bei der AMA (Agramarkt Austria) für Öffentlichkeitsarbeit zuständig, betreffen die meisten Konsumentenanfragen, die bei der AMA eingehen, das Thema Tierwohl. Diese Anfragen zeigen einen besonders hohen Emotionsgehalt. Laut Schürr sei dies unter anderem dem Umstand geschuldet, dass sich die kritische Öffentlichkeit von der Produktion immer weiter entfernt. Weiter entfernt sowohl in örtlicher Sicht als auch mental-emotionaler. Es fehlt ein Basiswissen über die zeitgemäßen Produktionsbedingungen. Es fehlen Hintergrundinformationen, welche bestimmte Aspekte erst verständlich machen würden, zumindest einem Verständnis näher bringen könnten. Schweinezucht und -mast sind ebenso wie der Transport und die Schlachtung vor dem Auge des Konsumenten gut verborgen. Die wenigen Bilder und Informationen, welche diesen erreichen, sind dann zumeist jene, die Umwelt- und Tierschutzorganisationen mit der Absicht verbreiten, das ganze System zu hinterfragen bis dorthin, es in Bausch und Bogen abzulehnen.
Der Philosoph Christian Dürnberger erkennt darin eine Gefahr und andererseits auch eine Chance. Gefährlich könnte es werden, wenn sich die Branche gesellschaftlichen Entwicklungen komplett verschließt, welche von NGOs zumindest angezeigt werden, teilweise wohl auch gezielt gesteuert. Die Chance hingegen besteht darin, diesen gesellschaftlichen Wunsch ernst zu nehmen und sich selbst mehr als bisher proaktiv in die Tierwohldebatte einzubringen.
Schweinemäster Werner Pail aus der Südsteiermark versucht diesen Schritt auf den Konsumenten zuzugehen. Der von ihm gegründete Verein “Saugut” bemüht sich, das gegenwärtige System der Schweinemast für interessierte Konsumenten im Rahmen von Veranstaltungen und Vorträgen verständlich zu machen und seine Stalltür zu öffnen. Schlachthöfe reagieren auf den gesellschaftlichen Wunsch nach mehr Transparenz mit Kameras an den besonders neuralgischen Punkten innerhalb des Schlachtprozesses. Der Schlachthof von Norbert Marcher in Graz geht sogar soweit, Interessenten einzuladen sich die Schlachtabläufe anhand der installierten Kameras anzusehen.
Der Konsument kann laut Dürnberger mit seinem Handeln positiv zum Tierwohl beitragen. Er kann mehr Geld in Schweinefleisch investieren, das heißt bewusst Fleisch kaufen, das nach ökologischeren Kriterien produziert wurde. Er kann insgesamt mehr Interesse für die landwirtschaftliche Produktion aufbringen. Der Philosoph wünscht sich abschließend eine unaufgeregte Debattenkultur anstatt einseitigen Schuldzuweisungen.
Schwein, das Fleisch des kleinen Mannes?
Schweinefleisch ist billig. Auch deshalb, weil es häufig als Aktions- bzw. Lockware angeboten wird. Das WIFO hat ausgerechnet, dass im Jahr 1980 ein durchschnittlicher Industriearbeiter für 1 Kilogramm Schweineschnitzelfleisch rund 82,9 Minuten arbeiten musste. 2012 musste dieser dafür nur mehr 39,7 Minuten Arbeitszeit leisten. So gerechnet war also Schweinefleisch 1980 mehr als doppelt so teuer wie heute.
> BLOG: "Ich esse nur Bio-Schwein"
Dies wird nicht von allen nur positiv bewertet. Zwar betonen die einen, dass hochwertiges, nahrhaftes und schmackhaftes Fleisch eine Errungenschaft sei, die den Anstrengungen einer hoch effizient arbeitenden Branche geschuldet ist. Andere sehen darin eine in mehrfacher Hinsicht bedenkliche Entwicklung. Einmal werden negative Auswirkungen auf die hauptsächlich nach Kriterien der Effizienz ausgerichteten Produktionsbedingungen befürchtet, mit scheinbar leidtragenden Tieren und Menschen. Zum zweiten tue ein übermäßiger Schweinefleischkonsum auch der Volksgesundheit nicht gut. Man verweist hier auf die Krebswarnung der WHO für den Verzehr von großen Mengen roten, und hier vor allem verarbeiteten Fleisches und auf in Studien nachgewiesene Zusammenhänge zwischen Fleischkonsum und sogenannten Zivilisationskrankheiten. Die von uns für unsere Videos befragte Diätologin Martina Heigl meint dazu etwa, dass der durchschnittliche Fleischkonsum in Österreich doppelt so hoch sei wie der von der WHO empfohlene.
Diese beiden völlig konträr laufenden Ansichten stehen einander einigermaßen unversöhnlich gegenüber. Ist Schweinefleisch ein “demokratischer Luxus”, erschwinglich auch für die weniger zahlungskräftige Bevölkerungsschicht? Oder sollte, wie Schweinebauer Norbert Hackl es fordert, Schweinefleisch unter “luxuriösen Bedingungen” produziert, tatsächlich zum raren Luxusprodukt werden mit einem im Vergleich zum jetzigen um ein mehrfaches höheren Preis?
Zur Zeit scheint sich die überwältigende Mehrheit der österreichische Konsumentenschaft ganz deutlich für die erstere Option auszusprechen. Trotz der oftmals behaupteten Bereitschaft, beispielsweise für mehr Tierwohl auch mehr zu zahlen, weist der Lebensmitteleinzelhandel in seinen Statistiken den Schweinefleischkonsumenten als besonders preissensibel aus. So tümpelt das mehr als doppelt so teure Bio-Schweinefleisch bei einem Marktanteil von unter 3 Prozent dahin, während Schweinefleischaktionen des Handels nach wie vor magnetische Wirkung erzeugen.
Religiöse Schweinefleischverbote
Für den durchschnittlichen Österreicher ist Schweinefleisch nach wie vor das beliebteste Fleisch. Für eine wachsende Zahl von Konsumenten in unserem Land hingegen kommt Schweinefleisch aus religiösen Gründen nicht in Frage. Muslimen und Juden ist der Verzehr von Schwein verboten mit Bezug auf eindeutige Stellen in der Thora und dem Koran. Gläubigen dieser beiden monotheistischen Religionen reicht vermutlich die direkt Gott zugeschriebene Herkunft des Verbots als Begründung dafür. Juden ist Schwein nicht „koscher“, was ungefähr so viel wie „erlaubt“ bedeutet und Muslimen nicht „halal“, was ebenfalls mit „erlaubt“ oder auch mit „rein“ übersetzt werden kann. Warum gerade Schwein als unerlaubt oder unrein gilt, fragen sich hingegen Theologen und Kulturwissenschaftler: Welche profanen Ursachen liegen möglicherweise den religiösen Speiseverboten zugrunde?
Die häufigsten Argumente beziehen sich auf gesundheitliche Aspekte: Schweine äßen Abfall, Schweinefleisch sei zu fett- oder cholesterinhaltig, es drohten Krankheiten wie Trichinose. Häufig wird dies auch im historischen Kontext betont: Beispielsweise sei Schweinefleisch in den heißen Regionen des Nahen und Mittleren Ostens ohne Kühlmöglichkeit schnell verdorben. Da bestimmte Risiken aber mit dem Genuss jeder Art Fleisch verbunden sind, erscheint diese Argumentation jedenfalls als nicht ausreichend. Eine zweite Gruppe von Argumenten betont kulturökonomische Aspekte. So habe der Rückgang der Wälder in den Regionen, von denen sowohl die jüdische als auch muslimische Religion ihren Ausgang nahmen, dazu geführt, dass zunehmend Getreide an Schweine verfüttert werden musste. Boten vordem die Früchte des Waldes eine Futterbasis, so verschwand diese zusehends mit demselben. Schwein und Mensch seien so Nahrungskonkurrenten geworden und das Halten von Schweinen allmählich unökonomisch. Diese Argumentation scheint dadurch gestützt, dass die Thora ausdrücklich erlaubt, Fleisch von wiederkäuenden Tieren zu essen. Eine interessante Theorie, der zufolge die Religion ein Problem erkannt und auf ihre Art gelöst hätte, durch ein (göttliches) Verbot, dem sich zusehends auch die heutige Schweineproduktion gegenüber sieht, nämlich die erwähnte Nahrungskonkurrenz des Schweines zum Menschen.
Wieder andere Forscher weisen auf psychologische Konstruktionsbedingungen von Kulturen hin, zu denen weltweit die Unterscheidung von “Gutem” und “Schlechtem” gehört. Gerade in Bezug auf Speisen komme dabei Emotionen wie Ekel eine große Rolle zu. Wovor sich ein (kulturelles/religiöses) Kollektiv ekelt und welchen Ekel es dann tradiert und in Verbote gießt, scheint erst recht wieder „zufällig“ und erklärungsbedürftig. Beispielsweise lehnen die meisten Europäer den Genuss von Hundefleisch intuitiv ab. In manchen Regionen Chinas dagegen gilt Hundefleisch als völlig normales Lebensmittel.
Ein Argumentationsstrang verbindet die Frage nach den Ursachen von Ekel mit ethischen Überlegungen. Demnach würden einige religiöse und kulturelle Traditionen dem Menschen nahe Tiere vor Schlachten und Verzehr schützen wollen, vorwiegend Säugetiere mit erkennbarem Schmerzempfinden wie eben Schweine, Hunde oder Affen. Auch hier träfe das alte Schweinefleischtabu religiöser Prägung auf ein modernes Problemfeld rund um die relativ neue wissenschaftliche Erkenntnis, welche Schweinen eine außerordentlich hohe Intelligenz attestiert, mithin etwas, das Schweine als dem Menschen besonders nahe erscheinen lässt.
Viele Forscher betonen die evolutionär-gemeinschaftsbildenden Aspekte von Speiseverboten: Demnach dienten sie vor allem als Signal von religiöser oder kultureller Zugehörigkeit. Sie markierten die Grenzen zwischen “Wir” und “Die anderen“ und begründeten so religiös ein Netzwerk des Vertrauens und Verständnisses nach innen, aber auch der Abgrenzung nach außen. Damit wird auch klar, warum in den biblischen und koranischen Stellen jeweils der Verzehr von “Götzenopfer” bzw. “dem, worüber etwas anderes als Gott angerufen wurde” verboten ist.
Speisegebote wie das Schweinefleischverbot können also gesundheitliche, ökonomische, psychologische und ethische Aspekte aufnehmen respektive aus diesen entstanden sein. Entscheidend scheint der gemeinschaftsbildende Aspekt, der ja gerade dann nicht funktionieren würde, wenn alle Traditionen die gleichen Speiseverbote befolgen würden.